Späte Liebe in Zeiten von Corona
Es waren die schönsten Momente seines Lebens, die fast nahtlos in die schlimmsten übergingen. Erst die Freuden einer späten Liebe, dann den Tod vor Augen. Mehr Extreme, mehr Tragik kann ein Leben kaum bieten. Zu Beginn einer seltsamen Beziehung die große Hoffnung, gefolgt von einem wirklich fatalen Ende, ein Ende des Schreckens in einer schrecklichen Zeit, in der Zeit, als das Coronavirus die Welt im Würgegriff hatte und großes Leid über viele brachte. Aber der Reihe nach.
Die Vorgeschichte kann man kurz halten. Ein Mann, immer noch in den besten Jahren, obwohl er vor Kurzem bereits in seine dritte Lebensphase, den aktiven Ruhestand, eingetreten is, verheiratet, wenn auch nicht glücklich, das Verhältnis zu seiner Frau ist ziemlich getrübt. Die Ehe ist kinderlos. Materiell lebt er in sicheren Verhältnissen, er fühlte sich auch gesund und stark, obwohl ihn ein leichter Herzinfarkt vor ein paar Jahren kurzatmig und vorsichtig gemacht hat. Dieser Mann reist nach Kuba, weil ihn das Land schon seit Langem interessiert, er es aber bisher noch nicht mit eigenen Augen gesehen hat, obwohl laut Kolumbus, eines Menschen Auge noch nie ein schöneres gesehen habe. Die übliche Karibikromantik mit heißer Musik und Tanz, mit dicken Zigarren und Rum sprach ihn wenig an. Es war vielmehr der morbide Charme verfallender Häuser, prachtvoller, entkernter Villen oder von Palästen ohne Dächer, aber mit grandiosen Fassaden. Ein Film über die sterbenden architektonischen Schätze des Landes hatte ihn sehr beeindruckt und er wollte einige davon selbst sehen, solange es sie noch gab. Auch die Revolution 1959 interessierte ihn. Der aussichtslose, mühsame Kampf gegen den übermächtigen Nachbar im Norden, David gegen Goliath, imponierte ihm und empörte ihn. Er hatte sich auf die Reise vorbereitet, hatte sogar einen Grundkurs in Spanisch absolviert, aber viel war nicht hängen geblieben, sein Schulfranzösisch und ein Wörterbuch müssten reichen und sie taten es auch, wie sich zeigen sollte. Allein wollte er das Land nicht erkunden und so hatte er bei einem renommierten Veranstalter eine Gruppenreise im Bus zu den bekanntesten Orten des Landes gebucht.
Die Reise begann Mitte März in dem schlimmen Coronajahr 2020 in Havanna, setzte sich fort über Vinales, Cienfuegos, Santa Clara, Trinidad und Camaguey bis nach Holguin, dem Ort des Rückflugs. Zum Abschluss standen noch drei Tage Entspannung an dem nahen Traumstrand von Guardalavaca auf dem Programm. Die Reise verlief gut, ohne Probleme, aber auch ohne besondere Höhepunkte. Er sah genügend zerfallende Bauwerke, manche eindrucksvollen Paläste aus der Kolonialzeit, auch viele sehr schön restaurierte Gebäude, aber seine Begeisterung für das Land hielt sich in Grenzen. Die Gruppe war ganz in Ordnung, er fand allerdings keinen rechten Anschluss, was ihm aber nicht viel ausmachte, denn er war ohnehin eher ein Einzelgänger. Nach den gemeinsamen Abendessen versuchte er Einblicke in das Alltagsleben der Kubaner zu erhalten, schlenderte durch die nächtlichen Straßen und brachte bei einem Mojito oder einer Cerveza seine spärlichen Sprachkenntnisse in Bars oder Kneipen an.
Die Reise wäre nicht erzählenswert, wenn ihn nicht in Holguin die Liebe mit großer Macht überfallen hätte. Er war nicht abgeneigt, sich mit anderen Frauen einzulassen, seit seine Ehe kriselte, aber es war mühsam, Beziehungen herzustellen, er war kein Frauenheld, und somit beschränkte er sich auf lose Urlaubsbekanntschaften. Erst war er wie gewohnt am späten Abend unterwegs, dann beobachtete er von einer der Steinbänke aus das Leben auf dem Parque Calixto Garcias, dem zentralen Platz im Zentrum. Besonders erfreute er sich an der Musik einer Gruppe von Mexikanern, die aber gar nicht aus Mexiko kamen, sondern von hier waren, wie er später erfuhr, die mit Mariachiklängen auf sich aufmerksam machten. Die Gruppe wurde von einer jungen Sängerin begleitet, die er zunächst gar nicht richtig sah, deren Stimme ihm aber gefiel und auch die Lieder, die sie sang. Erst als die Gruppe auch zu ihm kam, von einem Ausländer erhoffte man sich offensichtlich immer ein ordentliches Trinkgeld, und die Sängerin ihn nach einem Wunsch fragte, konnte er sie genauer in Augenschein nehmen und es war so etwas, wie Liebe auf den ersten Blick, obwohl er es zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nicht gewusst hat. Denn nicht nur die Stimme, sondern auch ihr Aussehen faszinierte ihn. Eine Frau von Anfang zwanzig mit großen, ausdrucksstarken Augen in einem hübschen Gesicht voller Sommersprossen, ein Gesicht, wie er es auf seiner Reise noch nicht gesehen hatte, mit mittel langen Haaren, die ziemlich wild und ungeordnet abstanden. Sie trug ein sehr kurzes, weißes Kleid, darauf in Schwarz das Gesicht einer Frau mit Schnurrbart. Die Sängerin war nicht groß und um das zu kompensieren, hatte sie sehr hoch hakige Schuhe an, die sie offensichtlich nicht gewohnt war, denn beim Gehen stakste sie sehr deutlich. Das alles nahm er wahr, während sie auf seine Antwort wartete. Auf die Schnelle fiel ihm als einziges spanisches Lied nur „besame mucho“ ein. Die Band begann und die junge Frau hauchte die Worte von Liebe und Abschied höchst ausdrucksvoll und dabei sah sie ihn auf eine Weise an, dass es ihm ganz warm ums Herz wurde und sich ganz plötzlich ein Gedanke in seinem Hirn festsetzte, der Gedanke, wie schön es sein müsste, von dieser Frau geküsst zu werden. Es gab natürlich noch einige Zugaben und am Ende der privaten Darbietung gab der Gruppe und der Sängerin noch einmal extra ein großzügiges Trinkgeld. Dann sagte er ihr noch in seinem besten, schlechten Spanisch, wie gut sie gesungen habe, wie sehr ihm alles gefallen habe und am besten natürlich das erst Lied, leider habe er den Text nicht verstanden und leider würde er auch nur den Titel kennen. Er habe nur eines verstanden, nur dass sie geküsst werden wolle, nur „besame mucho“, mehr habe er nicht verstanden. Die junge Frau lachte herzlich und sagt zu seiner Überraschung, dass sie ihm den Text gern erklären würde und setzte sich neben ihn auf die Bank. Er deutete fragend auf die Gruppe, aber sie gab ihm zu verstehen, dass sie gar nicht dazugehöre, dass sie nur zum Spaß manchmal mitsänge und für heute sei es genug, jetzt wolle sie sich ausruhen. Sie verabschiedete sich von den falschen Mexikanern, diese lachten und riefen ihr noch etwas zu, das er nicht verstand, dann zogen sie weiter, auf der Suche nach anderen Touristen, die hoffentlich genauso spendabel sein würden. Aber zunächst war es noch einmal an ihm, spendabel zu sein, denn das Mädchen, sie hatte sich inzwischen als Maria, vorgestellt, fragte ihn, ob er ihr ein Bier spendieren würde, ihr Hals sei ganz trocken von all dem Singen. Das tat er natürlich sehr gerne und sie holte zwei Dosen Cristal aus dem nächsten Laden. Sie prosteten sich zu und tranken und er war sehr glücklich.
Die folgenden Stunden im Detail zu beschreiben, ist nicht nötig. Es reicht zu sagen, dass er die Sängerin Maria nicht nur höchst nett und sympathisch fand, nein er verliebte sich Hals über Kopf in sie, in eine junge Frau, die allein schon wegen ihrer Jugend für einen Mann wie ihn, höchst attraktiv war. Auch sie fand ihn durchaus anziehend und betonte mehrfach, dass das Alter eines Mannes für sie keine Rolle spiele, die Sympathie sei entscheidend und sie fände ihn sympathisch. Das fand er wiederum sehr aufmunternd und es war ein weiterer Grund, sich noch heftiger in die schöne Maria zu verlieben. Diese versprach sich wohl auch so einiges von der Bekanntschaft mit einem Ausländer, denn sie war in einer Situation, in der sich viele junge Frauen in diesem Land befinden, die sehr jung heirateten, früh Kinder bekamen und dann sehr rasch wieder verlassen wurden. Diese Frauen hatten meist keine Arbeit, kaum Geld, keine Aussicht einen Kubaner als Ehemann zu bekommen, sie lebten überhaupt ohne große Perspektive und meistens immer noch bei der eigenen Mama. Ein Traum dieser chicas war es, einen reichen Ausländer zu ergattern. Bei den Einkommensverhältnissen hier, war jeder Ausländer reich, der allein schon mit seinem Geld ihrem Leben einen positiven Drall geben würde und sie waren durchaus bereit, eine solche, eher seltene Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen und auch viel dafür zu tun, dass die Aufmerksamkeit erhalten bliebe. In diesem Fall schlug ihm die schöne Maria vor, die letzten Tage seiner Reise nicht mit der Gruppe in Guardalavaca zu verbringen, wohin sie ihn sicher nicht begleiten dürfe, denn die da wollen dort keine Einheimischen, das wisse sie. Er solle vielmehr mit ihr nach Gibara fahren, einer wunderschönen, kleinen Stadt am Meer, dazu noch viel näher als das langweilige Touristenghetto. Sie habe eine Tante dort, der eine casa particular gehöre, eine Wohnung die an Touristen vermietet würde und sie sei auch nicht teuer und sie könnten dort zusammen sehr glücklich sein, denn auch sie fänden ihn sehr toll, er sei ein wirklich wunderbarer Mann und sie würde gerne mit ihm zusammen sein.
Wenn die Liebe in diesem Alter zuschlägt, in Form einer wirklich sehr hübschen, gebildeten, kultivierten, attraktiven jungen Frau, die dazu noch eine bezaubernde Stimme hat und ihn voller Seligkeit anstrahlte, dann ist es kein Wunder, wenn ein Mann alles um sich herum vergisst und nur noch einen ganz dringenden Wunsch hat, er will mit dieser Frau zusammen zu sein und sei es auch nur für ein paar Tage. Es war kein Problem, mit dem Reiseleiter zu klären, dass er sich nun selbstständig machen und erst wieder vor dem Rückflug auf die Gruppe stoßen würde. Es war auch für Maria kein Problem, ihr Kind bei der Oma zu lassen, bei der Tante die Ferienwohnung bis Sonntag zu bestätigen und ein Auto zu organisieren. Das Auto, ein uralter Chevrolet, der fast nur noch aus Rost bestand, ein illegales Taxi, gehörte Carlos, einem Bekannten, der nachts junge Leute aus dem Umland in die Diskos der Stadt brachte. Carlos war ein Machotyp, Ende dreißig mit kurzen, gegelten Haaren, der am liebsten bunte, ärmellose Hemden trug, aber er war sehr sympathisch und sehr gut vernetzt. Bevor sie am nächsten Tag nach Gibara fuhren, Händchen haltend auf dem Rücksitz des Straßenkreuzers, machte Carlos noch einen Abstecher bei einer Bank und er hob genügend Bargeld ab, denn ihm war jetzt schon klar, dass er „seiner Maria“ etwas da lassen würde, denn er hatte inzwischen einiges mehr über sie erfahren und wusste, dass ihre Armut reziprok zu ihrer Attraktivität war, sie besaß kaum einen Peso.
Am Freitag kamen sie gegen Mittag in Gibara an. Das Haus lag am Rande der Stadt, nur durch eine belebte Straße von einem kleinen Strand getrennt. Es war eines dieser schönen, immer noch reich ausgestatteten Häuser ehemals wohlhabender Familien, die auch nach vielen Jahren Sozialismus ihren Charakter noch immer bewahrt hatten und er war begeistert, dass er ausgerechnet in einem solchen Schmuckstück seinen Urlaub beenden konnte. Zudem war die Besitzerin nicht nur sehr freundlich, sie bot auch an, das Abendessen zuzubereiten, was bei Maria große Begeisterung auslöste, weil es gleich am ersten Abend camarones, also Garnelen geben würde, ihr Leibgericht, von dem sie aber immer nur träumen konnte. Die beiden Verliebten verbrachten wunderschöne Stunden in der schönen, kleinen Stadt und an dem nahen Strand und noch schönere in dem breiten Bett, das mit einem romantischen Tüllvorhang versehen war und auf dem am Abend ein aus Handtüchern gefalteter Schwan auf sie wartete. Über die Stunden im Bett muss man nicht viel sagen, sie redeten viel und sie liebten sich und sie waren sehr glücklich, dass sie zusammen waren. Irgendwann im Laufe der Tage kam er zu der Erkenntnis, dass er sich nicht nur ein wenig verliebt, sondern dass er die wahre, späte Liebe seines Lebens gefunden hatte. Sie machten Pläne, wie es mit ihnen weitergehen könnte und schon jetzt stand für ihn fest, dass er noch in diesem Jahr ein weiteres Mal kommen würde und Maria zählte auf, was sie gerne als Geschenke aus Alemania mitgebracht haben möchte.
Dann war es Sonntag und der Tag wurde vom Abschiedsschmerz überschattet. Sein Flug fand um 19 Uhr statt, die Entfernung zum Flughafen betrug etwa 40 km, es müsste reichen, um 17 Uhr loszufahren. Maria rief Carlos an und der versprach, rechtzeitig in Gibara zu sein. Carlos war es, der am Telefon Maria zum ersten Mal etwas von einer Krise erzählte, von einem Virus der aus China in die Welt gekommen war, weil eine Frau eine Suppe mit Fledermäusen gegessen habe. Carlos war rechtzeitig da und sie fuhren auch rechtzeitig los, aber dann kam etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Beim Überholen eines Pferdefuhrwerks, es war eine jener einspännigen Kutschen, die immer n noch in großer Zahl auf Kubas Straßen verkehren, scheute das Pferd, brach in die falsch Richtung aus, das Auto erfasste das Fahrzeug, warf es um, der Kutscher fiel unglücklich auf die Straße und wurde verletzt, eine Platzwunde an der Stirn blutete heftig. Auch das Auto hatte einen Schlag abbekommen, war aber noch fahrtüchtig, wie sich später zeigen sollte. Carlos rief mit seinem Handy die Polizei, er erklärte, er sei dazu verpflichtet und wolle vermeiden, dass er später noch mehr Probleme bekomme. Zwei Polizisten kamen nach einer halben Stunde und fingen an, den Unfall aufzunehmen. Die Lage war aber nicht so einfach, es gab immerhin einen Verletzten, den Kutscher, der, nachdem er das Pferd festgebunden hatte, am Straßenrand saß, ein blutgetränktes Taschentuch auf die Stirn presste und laut schimpfte und jammert. Carlos versuchte alles, um den Polizisten klarzumachen, dass sein Kunde rechtzeitig auf dem Flughafen sein müsste, aber die ließen sich nicht beirren oder gar erweichen. Er, der Fremde, müsse so lange hier bleiben, bis der Unfallhergang und die Schuldfrage geklärt sei. Der Kutscher habe Anspruch auf Schadenersatz und Schmerzensgeld und er, der Chauffeur sei nicht berechtigt, einen Ausländer zu transportieren, sein Auto sei kein Taxi und deswegen müsse er bestraft werden und auch der Ausländer bekäme eine Strafe wegen dieser illegalen Fahrt, die er erst gar nicht hätte antreten dürfen. Um das alles zu klären, müssten aber ihre Dienststellen eingeschaltet werden und das könne dauern, weil man am Sonntag nicht an die richtigen Leute käme und vielleicht müsse er, der Ausländer, sogar bis Montag warten. Die Aussicht war alles andere als rosig, die Verbindung zur Zentrale war gestört, die notwendigen Anrufe konnten einfach nicht getätigt werden und der Kutscher jammerte nach wie vor und presste sein Taschentuch auf die Wunde, die aber nun nicht mehr blutete. Carlos war nervös, Maria hilflos und er selbst hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf, würde er es zu seinem Flug noch schaffen. Doch dann fing Carlos an, auf die Polizisten einzureden und die Schadensaufnahme, die so kompliziert und langwierig schien, ging auf einmal ganz zügig vonstatten. Der Kutscher sagte, seine Platzwunde sei nicht schlimm und seinen Karren würde er wieder reparieren können. Die Polizisten sahen keine Notwendigkeit mehr, sich mit ihrer Dienststelle in Verbindung zu setzen und würden die Weiterfahrt ausnahmsweise gestatten, weil er ja so dringend zum Flughafen müsse. Das Wunder geschah, nachdem er sich bereit erklärt hatte, einen dreistelligen Pauschalbetrag zu bezahlen, der alles abdecken würde. Er hatte zum Glück genug Bargeld dabei, es war eigentlich für Maria vorgesehen und er hatte es ihr noch nicht übergeben. Die drei durften also wieder weiterfahren. Carlos drückte mächtig aufs Gas und schimpfte, dass die beiden Gauner, diese Mafiosi von Polizisten das Geld unter sich aufteilen würden, dass weder die Staatskasse noch der Kutscher auch nur einen Centavo abbekommen würden. Doch alles Beeilen half nichts, denn als sie endlich am Flughafen ankamen, war die Maschine schon startbereit, war schon auf dem Rollfeld und es gab keine Möglichkeit mehr, an Bord zu gelangen.
Eine weitere schlechte Nachricht traf ihn wie ein Hammer. Er erfuhr am Abfertigungsschalter, dass dies der letzte reguläre Flug war, der hier in Holguin angekommen sei und der letzte, der abfliegen würde. Die Grenzen des Landes seien geschlossen, der Luftverkehr sei wegen Corona eingestellt worden. Man wisse nicht, wie es mit den Flügen weitergehen würde, es sei aber sicher, dass die Touristen, die noch im Land waren, zurück in ihre Heimat gebracht würden. Man wisse nur noch nicht wann und wie, man wisse gar nichts, er müsse sich gedulden und öfters anrufen. Ratlos saßen sie zu dritt in der leeren Flughafenhalle und nach Abwägen aller Möglichkeiten, beschlossen sie, in eine andere casa particular hier in der Stadt zu fahren, die diesmal einem Bekannten von Carlos gehörte, um dort abzuwarten und zu sehen, wie es weitergehen würde. Noch während sie beratschlagten kam ein junges Pärchen auf sie zu, Landsleute von ihm, wie sich rasch herausstellte, die auch ein Problem hatten. Sie waren mit dieser letzten Maschine angekommen, beim Abflug in Frankfurt war die Welt noch in Ordnung gewesen, im Flugzeug noch viele Touristen, die trotz einiger warnender Anzeichen das Wagnis auf sich genommen hatten, nach Kuba zu reisen. Es schien ja nur eine harmlose Grippewelle zu sein, die sich da anbahnte und auf einer Insel sei man sogar noch besser geschützt als daheim, mögen manche gedacht haben und andere wollten ihre bereits bezahlten Reisen nicht aufgeben und auf den Kosten sitze bleiben . Die Grenzen waren ja noch offen gewesen, die Welt war noch in Ordnung. Hier angekommen, waren die Reisenden mit Bussen und Taxis in ihre Hotels gebracht worden, nur das Pärchen hatte Pech, weil sie als Individualreisende nichts gebucht hatten und alle Taxis und Busse weg waren und eine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr nicht vorgesehen war. Sie wüssten nicht, klagten sie, wie sie in die Stadt kommen sollten, wo sie ein Zimmer bekommen könnten und überhaupt, was sie tun sollten, da eine individuelle Rundreise jetzt wohl nicht mehr möglich sei. Wieder war es Carlos, dessen Kontakte hilfreich waren und der sogleich versprach, ihnen zu helfen, als er nach konzentrierten Anstrengungen, wusste, um was es ging, denn die beiden Jugendlichen sprachen auch kaum ein Wort Spanisch. Er kenne in der Stadt einige casas particulares, sagte Carlos, und sie würden bestimmt eine Wohnung finden, die frei sei, jetzt wo viele Touristen gerade abgereist seien und die angekommenen seien bestimmt alle ans Meer gebracht worden, alle wollten ja immer nur an die Strände und seine schöne Heimatstadt würde kaum jemanden interessieren. Die beiden waren erleichtert und erzählten auf der kurzen Fahrt in die Stadt, dass sie gerade ein paar Tage mit ihren Eltern in Österreich, in dem Skiort Ischgl in Tirol verbracht hätten. Die Kubareise hätten sie schon lange geplant und das Ticket natürlich bezahlt und das mit dem Virus, ja sie hätten davon gehört, aber alle sagten, dass es nur eine leichte Grippe verursache, um so mehr würden sie sich wundern, dass jetzt Kuba dicht sei. Was bliebe ihnen übrig, als zu warten und mit dem nächst möglichen Flug wieder zurückzukehren. Schon die erste Wohnung, die Carlos angesteuert hatte, war frei und die beiden verabschiedeten sich dankbar, auch weil sie sich nicht an den Fahrtkosten beteiligen mussten.
Das Ende der Geschichte, so traurig es auch ist, kann wie schon der Anfang rasch erzählt werden. Maria und er blieben bis Mittwoch in der Wohnung und er rief mehrmals am Tag im Flughafen an, aber keiner wusste etwas Genaues, man vertröstete ihn. Er überlegte, auch bei seiner Frau anzurufen, die sicher mitbekommen haben musste, dass Kuba sich abgeriegelt hatte, aber er tat es nicht. Am Dienstag hatte die Regierung eine Verordnung erlassen, nach der sich alle Touristen im Land in Quarantäne begeben müssten. Einzelreisende, die nicht in den großen Hotels untergebracht waren, sollten sich innerhalb von 24 Stunden bei der Polizei melden. Der Vermieter des Hauses sagte, er müsse sich an die Vorschrift halten, der Gast könne nur noch diese Nacht hier bleiben, sonst bekäme er selbst große Probleme. In Quarantäne gehen wollten aber weder er noch Maria, das hätte ja ihre Trennung bedeutet und es wäre fraglich gewesen, ob sie sich jemals hätten wiedersehen können. Carlos, der treue Helfer, wusste wieder Rat. Ein paar Kilometer hinter Gibara lag der Playa caletones, ein Strand, der nur von Kubanern und eigentlich nur im Sommer benutzt wurde. Er kannte wieder jemanden, der sicher bereit war, gegen ein wenig Geld, eine Hütte so lange zu vermieten, bis klar war, wie es weitergehen würde. Dort gäbe es Handyempfang und er könne genauso gut dort warten und erfahren, wann er zum Flughafen müsse. Und sollte die Polizei ihn dort aufspüren, was unwahrscheinlich sei, die kämen da nie hin, könnte er sagen, er habe von der ganzen Quarantänescheiße nichts gewusst. Sie sollten sich aber hier in der Stadt mit Wasser in Plastikflaschen und Lebensmitteln für eine Woche eindecken, dort, am Strand, gäbe es rein gar nichts und spätestens in einer Woche würde ja wohl klar sein, was mit dem Rückflug wäre. In dieser Nacht liebten er und Maria sich, wie wenn sie wüssten, dass sie nicht mehr viel Zeit hätten, so lang, so intensiv, voller Zärtlichkeiten und voller Glück. Am Morgen nach dem Aufwachen spürte er eine leicht Übelkeit und ein leichter Husten setzte ein. An Corona dachten beide nicht.
Schon am frühen Morgen kam Carlos. Sie fuhren in einen Laden und kauften, was sie sich notiert hatten. Wasser war seltsamerweise nicht vorhanden und Carlos musste herum telefonieren, um zu erfahren, wo es noch welches gäbe. Dann fuhren sie noch einmal bei der Bank vorbei, obwohl es ein gewisses Risiko war, die Bankangestellten hätten vielleicht die Polizei rufen können, weil sie ja die Aufforderung für die Quarantäne auch mitbekommen haben mussten, aber es ging gut und er hatte nun reichlich Geld und könnte sogar den Rückflug bar bezahlen, wenn es sein müsste. Am Donnerstag um die Mittagszeit waren sie in der kleinen Hütte am Playa caletones, die alles bot, was sie für ein paar Tage brauchten. Carlos nahm das Geld für die Miete entgegen, er würde es dem Hausbesitzer übergeben, und er bedankte sich herzlich für die Scheine, die er für seine eigene Mühe in die Hand gedrückt bekam, sie deckten deutlich mehr als nur die Unkosten ab. Dann verabschiedete er sich mit den Worten, er stehe jederzeit zur Verfügung, ein Anruf genüge. Nun war er wieder allein mit Maria und die schöne gemeinsame Zeit hätten sie noch eine ganze Weile fortsetzen können, ohne sich um den Rest der Welt zu scheren, wenn, ja wenn nicht der verdammte Virus gewesen wäre, der alle drei, auch Carlos, inzwischen heimgesucht hatte. Bei Maria und Carlos verlief die Erkrankung fast ohne sichtbare Symptome ab, weniger als eine leichte Grippe, aber sein Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag. Er müsse unbedingt ins Krankenhaus, drängte Maria, aber inzwischen war eine große Fatalität über ihn gekommen. Er lehnte ab, sagte er sei nur erschöpft und alles würde wieder gut werden und nein, Carlos solle nicht kommen. Am Sonntag, eine Woche nachdem er sich angesteckt hatte, starb er. Es war kein schöner Tod und auch Maria, die ratlos und verzweifelt bei ihm blieb, konnte ihn nicht trösten. Zum Glück hatte sich der Virus bei ihm nicht die Lunge ausgesucht, sodass er bis zuletzt genügend Luft bekam, sondern sein Herz, das schon angegriffen war und den Stress nicht mehr mitmachte. Und so starb er, zwar ohne groß leiden zu müssen, aber voller Verzweiflung, weil sein Glück, seine späte Liebe, nur so kurz gewesen war.