13. Januar 2016

Das einsame Haus

Das einsame Haus

 

Der Staub, der ihn während der langen Busfahrt ständig begleitet hatte, der sich auf seinen Kleidern, seinen Haaren, zwischen den Zähnen abgelagert und ihn geradezu eingepudert hatte, verließ ihn auch nicht auf dem Weg zum Hotel. Als er den großen Platz überquerte, auf dem der Bus gehalten hatte, wirbelten seine Schuhe kleine Wolken auf. Die Staubpartikel tanzten für kurze Zeit im Licht der gleißenden Nachmittagssonne, deren drückende Hitze offensichtlich alles Leben aus den Straßen verscheucht hatte. In dem alten, klapprigen Bus hatte er wenigstens im Schatten gesessen, doch hier, auf der Straße, war er der Sonne nahezu schutzlos ausgesetzt. War es wirklich die Mühe wert, hierher zu kommen, in dieses Gott verlassene Pisskaff am Ende der Welt? Hatte sich die lange Fahrt in dem schlecht gefederten Bus auf dieser Aneinanderreihung von Schlaglöchern, die sie hier Straßen nannten, gelohnt? Warum nur hatte er sich dieser Tortur ausgesetzt, hatte sich alle Körperzellen stundenlang durchrütteln lassen und dazu noch den permanenten Schlafentzug hingenommen? Er war müde und verschwitzt, die Knochen taten ihm weh, der Mund war trocken und die Kehle ausgedörrt. Fünf Dinge, nur fünf Dinge wünschte er sich, um wieder ein halbwegs intakter Mensch zu werden: ein sauberes Zimmer, eine kalte Dusche, ein kühles Bier, etwas zwischen die Zähne und danach ein paar Stunden Schlaf. Das sind verdammt viele Wünsche auf einmal, dachte er skeptisch, als er mit seinem schweren Rucksack in die enge Gasse einbog, an deren Ende er das Schild „Hotel Libertad“ sah. Ob sie wohl alle in diesem Hotel erfüllt würden? Doch um die Frage nach dem Lohn der Qual beantworten zu können, reichte es nicht, wieder ein halbwegs intakter Mensch zu werden, erst musste er das Ziel seiner Reise erreichen und erkunden, den berühmten Nationalpark „Torres de los vientos“. Erkunden war natürlich maßlos übertrieben. In den zwei, drei Tagen seines Aufenthalts würde er allenfalls einen groben Eindruck gewinnen können. Doch er war optimistisch, denn sein bewährter Reiseführer wusste jedenfalls, dass sich ein Besuch lohne, sogar sehr lohne. Er pries den Park in höchsten Tönen, hob die Schönheit der Landschaft hervor, beschrieb die beeindruckende Flora und Fauna und empfahl ausdrücklich den abgelegenen, schwer zugänglichen Teil als besonders interessant. Deshalb war er nun hier, deshalb hatte er all diese Mühen auf sich genommen und war an den Arsch der Welt gereist. Der Ort sei im übrigen eine Oase der Ruhe, ohne Trubel, ohne Hektik und nur wenige Touristen würden sich hier her verirren. In diesem Punkt hatte der Reiseführer auf jeden Fall recht. Es schien sich, außer ihm, kein Mensch hierher verirrt zu haben. Er war der einzige, der aus dem Bus gestiegen war, der einzige, der den weiten Platz überquert hatte, durch die enge Gasse gestapft war und nun vor dem Hotel Libertad stand, laut seinem allwissenden Reiseführer, der einzigen akzeptablen Unterkunft.

Mindestens zwei Nächte wollte er bleiben, vielleicht auch mehr, je nach dem, wie seine Erwartungen erfüllt würden. Aber diese zwei Nächte müssen erst einmal überstanden werden, dachte er schaudernd als er sich das Hotel besah. Denn von außen machte es alles andere als einen guten Eindruck, dieses hässliche, zweistöckige Gebäude mit dem abblätterndem Putz auf der Fassade, dem verrosteten Gitter als Haustür und den offensichtlich maroden Fenstern, die mit Sicherheit weder die nächtliche Moskitos noch den ewigen Staub zurückhalten würden. Er hörte schon das bösartige Gesumme der Plagegeister und bei dem Gedanken an das Knirschen des Sands zwischen den Zähne musste er mit trockener Zunge über seine noch trockeneren Lippen lecken, der Speichel war versiegt.

Innen war das Hotel um keinen Deut besser als von außen. Der negative Eindruck setzte sich fort, als er den hässlichen Mehrzweckraum betrat, der augenscheinlich Foyer, Rezeption, Bar, Restaurant, alles in einem war. Es war ein öder, kahler Raum mit blanken Neonröhren an der Decke ohne einen Hauch von Stil oder gar Ambiente. Ein Mann saß dicht vor einem uralten, laut lärmenden Fernseher, der in einer dunklen Ecke auf einem Stuhl stand. Es war vermutlich der Wirt oder der Koch, denn er trug eine typische Kochjacke, die sicher einmal weiß gewesen war, aber nun deutliche Spuren der Speisekarte der letzten Wochen aufwies. Er schaute fasziniert auf die schwarz-weiß flimmernde Mattscheibe und ließ sich durch den eingetretenen Gast in keiner Weise stören. Dieser war zunächst abwartend am Tresen stehen geblieben und hatte zwangsläufig das Programm eine Weile mitverfolgt: eine Seifenopern, eine telenovela, die wohl in dieser Abgeschiedenheit den Gipfel an Unterhaltung und Vergnügen bildete. Schließlich hatte er genug gesehen und machte mit einem Klopfen auf die Theke und einem Ruf auf sich aufmerksam. Erst jetzt, als er ihn endlich bemerkte oder zumindest nicht mehr ignorieren konnte, drehte der Koch oder Wirt den Kopf zu ihm hin und nickte ihm einen angedeuteten Gruß zu. Dann stand er langsam und zögernd auf, wobei er ständig auf den Fernseher schaute. Er trennte sich ganz offensichtlich nur sehr unwillig von der Geschichte um Liebe und Leid in der Flimmerkiste. Doch dann stand er, ein großer dünner Mann mit Halbglatze und Schnurrbart, vor dem Gast und musterte ihn mit dunklen Augen, die hin und her wieselten und ihn mit einer gewissen Skepsis taxierte, was durchaus kein Wunder war, so müde, so staubig, verdreckt und zerknittert, wie der aussah.

Ja, ein Zimmer sei noch frei, sagte er endlich. Nein, Dusche und Toilette seien nicht auf den Zimmern, aber auf dem Flur, doch momentan seien einige Wasserleitungen im Haus defekt und müssten repariert werden. Wasser gäbe es nur in dem Brunnen auf dem Hof und dort sei momentan auch die einzige Toilette, leider kein WC, nur ein einfaches bano in einem Holzverschlag. Diese Unannehmlichkeiten täten ihm leid – lo siento – ,aber wenn er das Zimmer trotzdem sehen wolle, bitte, er gehe voran. Es war klein und fensterlos, ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl, weiß getünchte Wände, ein gefliester Fußboden, auf dem ein Ventilator stand. Das fehlende Fenster war kein Problem, damit konnte man leben. Der Innenraum hatte sogar Vorteile, er war vermutlich kühler und die Angst vor dem nächtlichen Staub und den Moskitos vielleicht unbegründet. Dennoch wäre er am liebsten wieder gegangen, so einladend fand er den Raum, so charmant den Wirt, so beschissen das ganze Hotel. Aber wohin? Wenn das schon die beste Unterkunft war, wie waren dann wohl die anderen? Seine Unlust hier zu bleiben, wurde nur von der Unlust übertroffen, die Nacht in einem genauso schäbigen Privatquartier bei neugierigen Leuten verbringen zu müssen. Zudem müsste er wieder hinaus in die Hitze, auf die staubigen Straßen. Er hätte womöglich lange suchen und fragen und wer weiß wie weit gehen müssen. Nein, das wollte er auf keinen Fall, dann schon lieber hier bleiben. Zwei Nächte, sagte er sich, nur zwei Nächte, die werde ich wohl überstehen. Er erwog in diesem Moment schon gar nicht mehr, länger zu bleiben. Als sie wieder in die Gaststube zurückkehrten, um das Anmeldeformular auszufüllen, fragte er den Wirt, ob es etwas zu essen gäbe, er habe seit dem Frühstück nichts mehr in den Magen bekommen. Dieser reagiert unwirsch, jetzt um diese Zeit gehe es schlecht, er habe nichts da. Als der ausgehungerte Gast aber nachdrücklich insistierte, erklärte er sich schließlich bereit, übriggebliebene Reste des Mittagessens aufzuwärmen, Reis mit Bohnen und dazu könne er noch Spiegeleier bekommen.

Zurück in seinem Zimmer, leerte er als erstes fast auf einen Zug eine ganze Flasche Wasser, dann verstaute er seinen Rucksack im Schrank und legte sich, dreckig und verschwitzt auf das Bett, eine harte Pritsche mit Sprungfedern aus Metall, die die Bezeichnung Bett eigentlich gar nicht verdiente. Die Versuchung liegen zu bleiben, die Augen zu schließen und sich ein paar Minuten dem dringend benötigten Schlaf hinzugeben, war groß. Aber er widerstand ihr, denn er wollte ja gleich etwas essen und zudem wusste er aus Erfahrung, dass aus den Minuten Stunden werden würden und dass ihm mit Sicherheit eine lange, schlaflose Nacht bevorstehen würde, eine Nacht in diesem öden Zimmer, zur Untätigkeit verdammt, wenn er jetzt, am späten Nachmittag, den Schlaf vorweg nahm. Dann doch lieber duschen, denn das war auch unbedingt notwendig. Er stand wieder auf, nahm das fadenscheinige Handtuch von undefinierbarer Farbe, das über der Lehne des Stuhls hing, suchte vergeblich nach Seife oder Shampoo und ging in den Duschraum am Ende des Flurs. Erst dort, als er den Wasserhahn aufdrehte und kein Tropfen Wasser kam, fiel ihm wieder ein, dass es ja „momentan“ keines gab. Verärgert und genervt ging er auf den Hof. Auf dem Weg zum Brunnen musste er an einem gefährlich aussehenden Hund vorbei, der jedoch im Schatten döste und ihn ignoriert, vorbei an Hühnern, die wegen der ungewohnten Störung aufgeregt gackerten und vorbei an einem Papagei auf einer Stange, der ihn doof anglotzte und kein Wort sagte, obwohl er stehen blieb und ihn zum Sprechen animierte. Das Wasser im Brunnen, das er mit einem Eimer an einer Kette heraufholte, war lauwarm und schmeckte komisch, als er einen Schluck in den Mund nahm. Er spukte es angeekelt aus. Vielleicht schmeckte es nicht nur schlecht, sondern war auch hygienisch nicht einwandfrei. Bei diesem Gedanken musste er lachen. Hygienisch einwandfreies Wasser, hier in dieser Bruchbude, in diesem Kaff? Einwandfreies Wasser gab es nur in den hellblauen Plastikflaschen. Dann überlegte er, wie er hier überhaupt duschen könnte und er kam er zu dem Schluss, dass er einen Eimer mit Wasser nach dem andern aus dem Brunnenschacht hochhieven und sich den Inhalt dann selbst über den Kopf und den Körper leeren müsste. Dazu müsste er sich gewissermaßen in aller Öffentlichkeit nackt ausziehen und das war ihm höchst unangenehm, obwohl ihn wohl niemand beobachten würde. Selbst die Lust, sich unter diesen spartanischen Bedingungen und mit diesem Wasser gründlich zu waschen, war ihm vergangen. So taucht er nur die Hände und die Arme in das Wasser und wusch sich das Gesicht, auf den Rest verzichtete er, gründliches Waschen würde er nachholen, wenn es dunkel war. Auf dem Rückweg richtete er wieder ein paar Worte an den sprachlosen Papagei. Die Hühner waren immer noch aufgeregt und der Hund wedelte diesmal mit dem Schwanz. Er war wohl harmloser als er aussah.

Die Hoffnung, dass das Essen schon bereit stehe, wurde enttäuscht. Der dünne Wirt war wohl nicht der schnellste, denn es dauerte noch eine ganze Weile, ehe er die aufgewärmten Reste brachte. Der Reis war pappig und ohne einen Hauch von Salz, zum Ausgleich waren die schwarzen Bohnen versalzen. Das Gelb der Eier konnte man vom Weiß kaum unterscheiden und genau so fade schmeckten sie. Zu allem Elend musste er zur Kenntnis nehmen, dass das Bier ausgegangen war und erst am Abend nachgeliefert würde. So musste er wohl oder übel mit einer klebrigen, zuckersüßen Limonade Vorlieb nehmen, die jedoch wenigstens kalt war. Die Orange zum Nachtisch sah arg verschrumpelt aus, war aber aromatisch. Nur der Kaffee, den er statt eines Desserts bestellt hatte, war so, wie er sein sollte, heiß, schwarz und bitter.

Nach dem Essen überlegte er, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Zurück auf sein Zimmer wollte er nicht. Es war zu trostlos und die Gefahr einzuschlafen war zu groß, selbst lesen würde ihn nicht wach halten. So beschloss er, trotz seiner Müdigkeit, trotz der immer noch andauernden Hitze und obwohl er eigentlich gar keine Lust hatte, den Ort zu erkunden. Er ging eine lange Straße hinunter, bog in eine schmale Querstraße ein und ging eine andere, ebenso lange wieder zurück. Die Häuser sahen sich alle sehr ähnlich, sie waren schäbig, manche gar halb verfallen. Und noch immer schien der ganze Ort menschenleer zu sein, zumindest war er der einzige, der um diese Zeit durch die Straßen pilgerte. Er kam sich vor, wie in eine andere Zeit versetzt, als sei er Mitwirkender in einem Schwarz-weiß-Film der fünfziger Jahre und er hätte sich nicht gewundert, wenn eine Horde Desperados die sandige Hauptstraße herangaloppiert käme. Das einzige Objekt, neben den Fernsehantennen auf vielen Dächern, das eine Zuordnung zu der Jetztzeit erlaubte und eine Anbindung an den Rest der Welt versprach, war eine öffentliche Telefonzelle an der Bushaltestelle auf dem großen Platz, auf dem er schon nach kurzer Zeit seine Ortsbegehung beendete.

Er beendet sie, weil es in diesem ausgestorbenen Nest einfach nichts zu erkunden gab. Sollte er wieder zurück in sein trostloses Hotel? Nein, dann lieber noch einen Spaziergang der Umgebung. Wenn es in der „Zivilisation“ nichts zu erkunden gab, dann vielleicht in der Natur, deswegen war er ja auch hergekommen. Vor dem Ort folgte er einem sandigen Weg in Richtung eines Hügels, der sich jedoch, je näher er kam, als ausgewachsener Berg entpuppte. Farne und Kakteen wechselten sich mit dornigem Gestrüpp und ganzen Büschen von gelben Blumen ab. Als er den Fuß des Berges erreichte, ging der spärliche Bewuchs in einen trockenen Kiefernwald über, der ihm wenigstens etwas Schatten bot, denn die Sonne brannte immer noch mit großer Intensität. Aber auch hier, unter den Bäumen, war es heiß und schwül und stickig. Doch die würzige Luft entschädigte ihn ein wenig, es roch nach Harz, nach würzigen Kräutern, nach Hitze und Sommer. Zahlreiche Insekten begleiteten ihn, die Grillen und Zikaden mit ihrem lautes Konzert, die Fliegen mit ihrem lästigen Summen, nur die Moskitos hielten sich noch zurück. Die Freude an den schönen Schmetterlingen, den sporadisch auftauchenden Vögeln und den seltsamen, bläulichen Eidechsen, die noch seltener aufkreuzten, konnte die Mühsal der Wanderung allerdings nur bedingt ausgleichen, zumal der Weg nun immer steiler wurde. Er schwitze und schnaufte und bereute, dass er sich auf diesen Unsinn eingelassen hatte, auf einen Spaziergang, der längst zu einer ausgedehnten Wanderung, ja zu einer anstrengenden Exkursion ausgeartet war. Er war kurz davor umzukehren, als der Weg schließlich nach einer letzten Kurve auf einem Plateau endete.

Der Wald hatte sich gelichtet und vor ihm lag eine Terrasse, die an einer steilen Abrisskante jäh endete. Staunend, fasziniert, fast ungläubig schaute er auf die Landschaft, die nun vor ihm lag. Hier, am Rand des Steilabfalls, bot sich ein traumhafter, ja geradezu berauschender Blick auf eine weite Ebene und er wurde endlich für die Mühen belohnt, die er auf sich genommen hatte. Denn er sah auf ein fein modelliertes Kunstwerk, entstanden durch zahlreiche Abstufungen von sanften Hügeln und flachen Tälern, hohen Bäumen und niedrigen Büschen, bemalt mit hellen Sonnenflecken und tiefschwarzen Schatten und bläulichen Bergen, die ganz weit am Horizont schimmerten. Aus dem Grün dieser Ebene ragte eine Reihe auffallender Landmarken hoch empor, isoliert stehende, dicht bewachsene Kalksteinhügel, die wie überdimensionale grün-weiß gesprenkelte Termitenhügel aussahen und dem Park seinen Namen gegeben haben, die „torres“. Das Schönste aber war das Licht der tief stehenden Sonne, das dieses Mandala von Landschaft in prächtige, intensive gelb-orange-rote Farben tauchte. Er setzte sich an den äußersten Rand der Terrasse und schaute und schaute und staunte und bedauerte, dass er seinen Fotoapparat nicht mitgenommen hatte. Es wäre zu schön gewesen, diese visuelle Orgie der Extraklasse festzuhalten. Doch das war nun leider nicht möglich und so pries er stattdessen sein Glück, die Wanderung doch noch unternommen zu haben, die ihn zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort geführt hatte. Durch reinen Zufall war er an eine Stelle geraten, von der aus sich der Park als pure Märchenlandschaft präsentierte und er wunderte sich ein wenig, dass dieser phantastische Ort in seinem schlauen Reiseführer nicht aufgeführt war. Aber was soll’s? Er hatte ihn für sich entdeckt und nur das war wichtig. Alle Mühen und Anstrengungen waren nebensächlich geworden, die Müdigkeit war verflogen und selbst der Frust über das schäbige Quartier, das unzumutbare Essen und den unfreundlichen Wirt hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst.

Doch kein Glück auf dieser Welt ist vollkommen und oft sind es triviale Dinge, die es empfindlich stören. Als er schier benommen im Gras saß, die phantastische Aussicht genoss, das einmalige Licht bewunderte, die fast überirdische Stimmung auf sich einwirken ließ und mit sich und der Welt fast völlig zufrieden war, merkte er, erst allmählich, doch dann immer stärker, welch großen Durst er hatte. Sein Mund war genauso trocken wie bei der Ankunft mit dem Bus und sein Verlangen nach einem kühlen Bier schier übermächtig. Es war reichlich dumm von ihm gewesen, nicht einmal Wasser mitzunehmen, aber, er entschuldigte sich sogleich vor sich selbst, er hatte ja nur die Ortschaft erkunden, nur einen kleinen Gang durch die Straßen machen wollen. Er würde sich wohl durstig auf den Rückweg machen müssen und hoffen, dass im Hotel Libertad inzwischen Bier eingetroffen und kalt gestellt worden war. Doch ein zweites Mal hatte er Glück an diesem Nachmittag, denn zu seiner großen Freude entdeckte er, nachdem er aufgestanden war und sich anschickte zurück zu gehen, etwas, was ihm bisher entgangen war. Am Rande der Lichtung, etwas abgelegen, so dass er sie bei seiner Ankunft gar nicht sehen konnte, befand sich eine Ansammlung großer Bäume, deren Äste eine Art Schirm bildeten. Unter diesem Schirm schimmerte deutlich das rötliche Dach eines Hauses aus dem Grün-Braun des Waldes hervor, ein Haus, dessen Mauern hinter einer dichten, hohen Hecke verborgen war. Wo ein Haus war, wohnten Menschen und wo Menschen wohnten, gab es bestimmt etwas zu trinken und sei es auch nur ein Glas Wasser.

Die Hecke, die das Haus abschirmte und von außen fast unsichtbar machte, wurde auf ein paar Meter von einem niedrigen Holzzaun mit einem breiten Tor unterbrochen. Das Tor war verriegelt, doch daneben befand sich eine Lücke, breit genug, um einen kleinen Hof betreten zu können. Er sah niemand, trotzdem machte das Anwesen keinen verlassenen Eindruck, eher einen unaufgeräumten. Einige Gebrauchsgegenstände lagen vor dem Haus, Werkzeuge, Schuhe, Dinge, des täglichen Lebens, die man ständig braucht, aber auch solche, die vermutlich keiner mehr vermisste. Neben der Eingangstür stand eine Bank, links und rechts davon ein Blechkübel, bepflanzt mit bunten Blumen. Er fragte sich, als er über den Hof ging, wer hier in dieser Abgeschiedenheit, in dieser Waldeinsamkeit wohl wohnte. Es wäre ein guter Platz für ein Ausflugslokal, vielleicht sogar für ein Hotel. Ein Hotel für Leute wie ihn, die in Ruhe den herrlichen Blick und den Frieden der Natur genießen wollten, ohne Rummel, ohne Hektik, ohne den Zwang, immer etwas Neues erleben zu müssen. Aber kamen solche Leute überhaupt hierher? Wenn jemand käme, dann doch nur Touristen und die verirrten sich nicht in eine so einsame Gegend. Als er die Haustür erreichte, sah er, dass er gar nicht so falsch gedacht hatte. Es war zwar kein Hotel, aber neben der Haustür hing ein handgemaltes Schild: „habitacion libre y comida“. Es war wohl eine Mischung aus Pension, Herberge und Gasthaus, genau das, was er brauchte, frohlockte er. Das heiß ersehnte, eiskalte Bier war zum Greifen nahe. Er würde es in Ruhe austrinken und sich dann gleich auf den Heimweg machen, denn die Sonne war schon ganz nah am Horizont und er wollte wenigsten wieder auf der Ebene und aus dem Wald heraus sein, bevor die rasch einsetzende Nacht den Weg beschwerlich machen würde.

Die Haustür war nur angelehnt. Er drückte sie auf und betrat unmittelbar einen großen Raum. Einen Raum, der genauso schmucklos und nüchtern, genauso wenig anheimelnd war wie der Mehrzweckraum in seinem Hotel. An der einen Wand eine Theke, in der Mitte ein paar Tische und Stühle. Hier war es dunkler als draußen, aber auch kühler. Auch dieser Raum war menschenleer. Niemand war da, an den er sich hätte wenden, den er um ein Getränk hätte bitten können. Er wartete eine Weile und wollte sich schon durch Rufen bemerkbar machen, aber aus einem unbestimmten Impuls heraus, tat er es nicht, sondern betrat stattdessen durch eine halb hohe Schwingtür einen schmalen Flur. Der Flur war fensterlos und deshalb noch dunkler und in ihn mündete eine Reihe von Türen, die er nur schemenhaft erkennen konnte und die vermutlich in die Gästezimmer führten. Vor einer Tür sah er einen hellen Schimmer auf dem Fußboden, das einzig Helle in diesem dunklen Flur, weil sie halb offen war. Neugierig stieß er sie ein Stückchen weiter auf, dabei entstand ein leises, quietschendes Geräusch. Nun stand er auf der Schwelle und blickte in das Zimmer. Es war klein und ähnlich karg eingerichtet, wie das in seinem Hotel. Auch hier waren die Wände weiß gekalkt und der Fußboden gefliest. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein weit geöffnetes Fenster, davor hing ein heller Vorhang. Auf der rechten Seite stand an der Wand ein kleiner Tisch, davor ein Stuhl, auf der linken eine hohe, dunkle Kommode mit einer weißen Venus aus Porzellan, die sich wollüstig räkelte. Über der Venus hing etwas, das nicht mehr genau zu erkennen war, ein Bild oder ein Kalender, denn inzwischen war das späte Abendlicht schon fast ganz verschwunden und die fortschreitende Dunkelheit erfüllte den Raum. Doch selbst wenn es noch heller gewesen wäre, hätte er kaum einen Blick für das Bild verschwendet, genauso wenig wie für das restliche Zimmer. Er sah all das nur nebenbei, quasi aus den Augenwinkeln, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt dem großen Bett, das mitten im Raum stand, nahezu quadratisch, mit einem halbkreisförmigen, verschnörkelten Metallgitter am Kopfende und einem weißen Laken auf der Matratze. Aber auch das Bett hätte er wohl mit derselben Flüchtigkeit zur Kenntnis genommen und wäre nach einem kurzen Rundblick wieder zurück in den Gastraum gegangen, wenn da nicht etwas gewesen wäre, das ihn veranlasste, gebannt im Türrahmen stehen zu bleiben und auf dieses Etwas zu starren. Es fesselte seinen Blick in einem Maße, dass er nicht mehr wegschauen konnte, es faszinierte ihn mehr als das herrliche Naturwunder im Licht des späten Nachmittags.

Dieses Etwas war eine schlanke, junge Frau, die auf dem Bett lag und deren dunkle Haut sich von dem hellen Laken genauso deutlich abhob, wie die weiße Unterwäsche von ihrer Haut. Sie hatte wohl geschlafen und war vermutlich durch das Quietschen der Türangel aufgewacht. Jedenfalls sah sie ihn mit großen, dunklen Augen an, in denen das Weiß der Augäpfel leuchtete. Sie schien zwar über seinen Anblick genauso überrascht zu sein, wie er über ihren, machte aber keineswegs einen erschrocken oder gar verlegen Eindruck, eher einen neugierigen. Inzwischen war er sich der Peinlichkeit der Situation bewusst geworden und murmelte eine Entschuldigung wegen seines unerlaubten Eindringens in ihr Schlafzimmer. Er sei auf der Suche nach dem patron oder einer Bedienung, jedenfalls nach eine Person, die ihm ein Getränk geben könne. Die Frau starrte ihn weiterhin stumm an, setzte sich dann aber auf und fuhr mit beiden Händen durch ihre langen, krausen Haare, um sie zu ordnen. Er stammelte nochmals eine Entschuldigung und fragte dann, ob sie zum Personal gehöre und ihm vielleicht etwas zu trinken besorgen könne. Doch er bekam auch diesmal keine Antwort, dafür ein Lächeln, das er in dem knappen Licht gerade noch erkennen konnte. Da sie stumm blieb und auch keine Anstalten machte, aufzustehen, vermutete er, dass sie ein Gast war, den er beim späten Mittagsschlaf gestört hatte. Vielleicht war sie auch nur verwirrt, weil sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht und noch immer von einem Traum gefangen war. Sie starrte ihn jedenfalls weiterhin unverwandt an, mit Augen, in denen die weißen Augäpfel mittlerweile das Hellste zu sein schien, das es in dem Zimmer gab.

Ihr eindringlicher Blick machte ihn verlegen und er schickte sich an, die Schwelle zu verlassen und die Tür wieder zu schließen, um doch noch jemand anderen in diesem seltsamen Haus zu finden. Doch da erlebte er eine weitere Überraschung an diesem Nachmittag, die zu glauben er sich geweigert hätte, wenn man sie ihm erzählt hätte. Die junge Frau lächelte ihn weiterhin freundlich, ja geradezu aufmunternd an, streckte dann aber ihre rechte Hand in seine Richtung mit einer Geste, die völlig eindeutig und unmissverständlich war. Sie winkte ihn zu sich, in der typischen Art der Landesbewohner, indem sie die Hand nach unten hielt und mit den Fingern greifende Bewegungen vollführte. Diese Geste sagte ihm klarer und deutlicher als es Worte vermocht hätten: komm näher, komm zu mir, ich will dich haben. Er zögerte dennoch, war unschlüssig, ob er der Aufforderungen nachkommen oder sich nicht doch lieber diskret zurückziehen sollte. Vielleicht, so dachte er einen kurzen Moment, bildete er sich das ganze Geschehen auch nur ein. Vielleicht war es nur eine Illusion, eine Fata Morgana, ein Halluzination, der Tribut an die Hitze des Nachmittags? Doch nein, es war Realität. Er war er und er stand auf der Türschwelle, blickte in das Zimmer, sah das weiße Bett und darauf die schwarze Frau in ihrem knappen weißen BH und ihrem noch knapperen Slip. Und er sah ihre eindeutige, einladende, auffordernde, drängende Handbewegung. Doch er stand weiter wie angewurzelt da, rührte sich nicht und seine Verklemmtheit stieg sogar noch, als die Frau ihr Hände hinter den Rücken steckte, ihren BH öffnete, die Träger langsam über die Schultern streifte, die Körbchen noch langsamer abzog und ihn mit einer eleganten Bewegung auf den Boden warf. Ihre Brüste konnte er in dem restlichen Licht kaum noch erkennen, aber er wusste trotzdem, dass sie schön und wohl proportioniert waren und darauf warteten, vom ihm liebkost zu werden. Und dann wieder diese Handbewegung, diese eindeutige, eindringliche Geste, diese unverhohlene Aufforderung doch endlich zu ihr zu kommen. Er machte einen zögerlichen Schritt in Richtung Bett, atmete schwer, Schweiß trat auf seine Stirn, er schluckte trocken, dafür wurden seine Hände feucht. Er war völlig durcheinander. Die Frau schien etwas ungeduldig geworden zu sein oder sie fürchtete, dass er ihre Einladung nicht verstanden hatte, jedenfalls sandte sie ihm ein weiteres, noch eindeutigeres Signal ihrer Paarungsbereitschaft. Sie legte sie sich wieder auf den Rücken, hob ihren Unterleib leicht an und zog auch den Slip aus, den sie mit derselben lässigen Bewegung dem BH hinterher warf. Nun lag sie da, eine schwarze Venus auf einem weißen Lilienfeld, la maja desnuda, Olympia in Erwartung ihres Liebhabers.

In diesem Moment bewegte ein Windstoß leise den Vorhang am Fenster. Diese sanfte Bewegung erlöste den Verwirrten endlich aus seiner Starre. Er trat nun, zwar immer noch unschlüssig, aber doch ein wenig zielstrebiger, in das Zimmer, schloss die Tür hinter sich und setzte sich sehr vorsichtig, sehr behutsam auf die äußerste Kante des Bettes. Von hier aus, aus einer einigermaßen sicheren Entfernung, starrte er leicht verschämt auf ihre Arme, die Brüste, den Bauch, die Beine und besonders intensiv auf das tiefschwarze Dreieck zwischen den leicht gespreizten Beinen. In ihre Augen jedoch, in die konnte er aus lauter Verklemmtheit nicht direkt schauen. Sie wartete und ließ ihm Zeit, doch dann handelte sie erneut. Sie richtete sich wieder auf, ergriff fest seinen Arm und zog ihn nachdrücklich zu sich heran. Er gab ihrem Drängen langsam nach und rutschte weiter auf das Bett, näher an sie heran. Als er nah genug war, umarmte sie ihn heftig und feuerte eine wahre Salve heißer, feuchter Küsse auf seine spröden Lippen ab und drängte ihre Zunge in seinen ausgetrockneten Mund, wo sie einen furiosen Tanz vollführte. Sie schien sich weder an seinem Schweiß noch an seinen verschmutzen Kleidern und auch nicht an seinem Körpergeruch zu stören – hätte er sich doch nur am Brunnen gewaschen, ging es ihm durch den Kopf -, denn sie begann, ihn langsam auszuziehen. Erst knöpfte sie sein Hemd auf, streifte es ab und warf es auf den Boden. Dann löste sie den Gürtel, merkte jedoch, dass er seine Stiefel an hatte und bedeutete ihm mit ausgestrecktem Finger, diese abzulegen. Er tat es und nun zog sie Hose und Unterhose in einem Rutsch über seine Füße und warf sie ebenfalls auf den Fußboden.

Jetzt saßen beide nackt auf dem Bett. Er, wegen der widersprüchlichen Gefühle, die in ihm tobten, wie ein pubertierender Jüngling, der zum ersten Mal in seinem Leben von einer kundigen Frau verführt wird. Er ließ mit sich geschehen. Sie dagegen wusste genau, was sie wollte, ihr Vorgehen war zielstrebig, tatkräftig, selbstbewusst. Es war bestimmt nicht das erste Mal, dass sie einen Mann auf diese Weise bedrängte und verführte. Sie war, da hatte er keinen Zweifel, eine Professionelle, eine Nutte, eine Hure, die aber seltsamerweise noch kein Geld von ihm gefordert hatte. Wie dem auch sei, er nahm jetzt ihre Nähe intensiv wahr, nahm den Duft einer jungen Frau in sich auf und auch den Hauch eines dezenten Parfüms, das nach Limetten roch. Und er sah sie nun unverhohlen an, wie sie sich genauso wollüstig auf dem Bett räkelte, wie die Porzellanvenus auf der Kommode. Jetzt erst legte er seine Verwirrung und seine Unsicherheit ab, wurde neugieriger und zugleich gieriger, gab endlich ihrem Drängen nach und ihren Verführungskünsten hin. Ihre Hände streichelten seine Brust, seine Arme, seine Haare. Er tastete sich über Rücken und Taille zu ihrer Brust und drückte sie sanft. Sie drängte ihren Körper an seinen, legte ein Bein auf seinen Bauch und schlang einen Arm um seinen Hals. Sein Mund suchte ihre Brustwarze, leckte, saugte, biss, während seine Hand den Weg zu ihrem Venusdreieck fand. Dann küssten sie sich, wieder und wieder, auf die Augen, die Ohren, den Mund. Und alles was dann geschah, geschah lautlos, wie eingespielt, wie selbstverständlich. Es war wie ein lang eingeübter Tanz eines Paares, das sich schon lange kennt und lange voneinander getrennt war. Eine Choreografie voller Harmonie, voller gegenseitiger Einfühlung, ohne die leiseste Dissonanz. Sie rangen und klammerten, stießen und drückten, schmiegten und pressten, immer schneller, immer heftiger, immer lustvoller, bis eine wahre Explosion ihrer aufgestauten, aufgepeitschten Gefühle beide erlöste.

Dann lag er schwer atmend auf dem Laken und beobachtete wieder den Vorhang, der sich immer noch leise im Wind bewegte. Es war der einzige Gegenstand im Zimmer, den er noch erkennen konnte. Die junge Frau stand auf, bückte sich, um ihre spärliche Bekleidung vom Fußboden aufzuheben und verließ dann, nackt und immer noch wortlos, das Zimmer. Er konnte nicht erkennen, ob sie sich in der Tür noch einmal zu ihm umdrehte und ihm zum Abschied zuwinkte oder ihn anlächelte. Er meinte, einen flüchtigen Handkuss erkannt zu haben, aber es hätte auch eine Sinnestäuschung sein können, wie alles, was er gerade erlebte hatte, reine Illusion hätte sein können, so unwirklich kam ihm die Situation vor. Genauso seltsam und unerwartet, wie er die schwarze Venus angetroffen hatte, wie sie sich ihm hingegeben hatte, war sie nun auch wieder verschwunden und er begriff, dass dieser Höhepunkt einmalig war und dass es sinnlos war, ihr nachzugehen und sie in dem Haus zu suchen. Nachdem sich seine Erregung etwas gelegt hatten, zog er sich an und ging, ohne einen weiteren Gedanken an das Bier zu verschwenden, nach dem er sich so gesehnt hatte, hinaus in die Nacht. Im Westen war nur noch ein heller Streifen am Himmel, ansonsten war alles in ein dunkles, sanftes, samtenes, girrendes, Tiefblau übergegangen. Die Vögel waren verstummt, die Grillen zirpten um so lauter und der Duft des Sommers und der jungen Frau mit ihrem Limettenparfüm begleitete ihn auf dem Weg zurück in sein Hotel.

Dort angekommen, sagte ihm der Wirt, er könne gleich zu Abend speisen. Er drückte sich sehr gewählt aus, was jedoch in dieser Situation völlig unpassend war. Es gäbe Hühnchen mit Reis, gebratene Patatas und Obstsalat. Nur, leider, Bier habe er keines. Der Mann, der es sonst immer liefert, sei heute nicht gekommen. Doch bevor der enttäuschte Gast seinen Unmut äußern konnte, bot der Wirt an, seinen Jungen in ein nah gelegenes Geschäft zu schicken, er, der Gast, müsse ihm allerdings das passende Geld mitgeben. Durch sein Erlebnis auf dem Berg immer noch leicht euphorisch und durch das Angebot des Wirts besänftigt, hielt sich sein Ärger über diese erneute Verzögerung seinen Durst zu stillen in Grenzen. Er griff in seine Hosentasche und erstarrte. Kein Portemonnaie! Er durchsuchte alle Taschen seiner Rangerhose. Nichts! Dafür fand er etwas anderes, etwas, was er ganz und gar nicht erwartet hatte, das er herauszog und verblüfft betrachtete. Es war der Slip seiner rätselhaften Geliebten. Unwillkürlich hob er ihn an die Nase und roch immer noch diesen verwirrenden Duft nach junger Frau und Limetten. Dieses seltsame Abschiedsgeschenk oder besser gesagt dies Tauschgeschenk konnte ihn jedoch nicht über den Verlust seines Geldbeutels hinweg trösten, in dem immerhin ein großer Teil seines Bargelds, eine Kreditkarte und andere wichtige Dokumente steckten. Fast noch mehr als den Verlust ärgerte ihn jedoch, wie naiv, wie ahnungslos er gewesen war und wie einfach er es der Frau gemacht hatte, ihn zu beklauen. Er, ein naiver, ahnungsloser, vertrauensseliger Idiot und Einfaltspinsel! Doch morgen würde er noch einmal auf den Berg gehen und sein Eigentum zurückfordern. Er lachte grimmig und steckte den Slip wieder in seine Hosentasche.

Der Wirt merkte, dass etwas nicht stimmte und fragte, was los sei und ob er ihm helfen könne. Froh, seinen Frust abladen zu können, erzählte er von seiner Wanderung, von dem phantastischen Blick auf den Park, von dem hinreißenden Abendlicht und dem einsamen Haus und dass er sein Portemonnaie irgendwo dort oben verloren habe. Je länger er redete, um so skeptischer und ungläubiger schaute ihn der Wirt an und als er fertig war, fragte er, ob er nach Osten – die Sonne im Rücken – oder nach Westen – die Sonne im Gesicht – gegangen sei. Nach Osten? Sei er sich da ganz sicher? Dort sei zwar ein Berg und ein Weg führe hinauf, ganz so, wie er es beschrieben habe und es gebe auch eine Lichtung auf dem Gipfel, aber kein Haus, dort wohne niemand. Und, so fügte er besorgt hinzu, was er überhaupt nicht verstehen könne, von dort oben habe man bestimmt keinen Blick auf den Park, der sei von dort gar nicht zu sehen, er läge in westlicher Richtung. Ungläubig und geschockt nahm er die Worte des Wirts zur Kenntnis. Aß dann ohne Appetit, trank wieder süße Limonade und verbrachte eine schlaflose, quälend lange Nacht.

Früh am nächsten Morgen machte er sich trotzdem noch einmal auf den bekannten Weg, unruhig, gespannt, voller Zweifel, ohne einen Blick für die Blumen, ohne die ihn umschwirrenden Insekten zu beachten. Er ging zügig bis zum Fuß des Berges, betrat den lichten Wald, stieg dann, wieder mit einiger Anstrengung, den steilen Teil des Weges hoch und kam, wie erwartet, zu der Lichtung. Es war zweifelsohne dieselbe Lichtung, die, die er schon am Vorabend betreten hatte, aber sie war dennoch völlig anders. Vor ihm lag keine Terrasse, kein Steilabfall bot ihm einen weiten Blick auf eine Märchenlandschaft. Es war nur eine baumlose Stelle in einem Wald, eine ganz gewöhnliche Lichtung, die mit hohem, trockenen Gras bewachsen und rundum von Bäumen umgeben war. An der selben etwas abgelegenen, schwer einsehbaren Stelle erkannte er die charakteristische Baumgruppe wieder, deren Äste einen Schirm bildeten und darunter auch die hohe Hecke. Von einem Dach jedoch keine Spur. Er ging zu der Hecke und stellte fest, dass es eine ausgedehnte Ansammlung von Büschen war. Sie umgaben keinen freien Platz, keinen Hof, in dem ein Haus hätte stehen können. Es gab kein Tor, keine Lücke durch die er auf den Hof hätte gelangen können und er sah natürlich auch nichts, absolut nichts, was auf ein Haus hingedeutet hätte. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und holte den Slip aus seiner Hosentasche. Er hielt ihn an die Nase und roch daran. Er roch nichts. Der Duft, den er noch am Vorabend deutlich wahr genommen hatte und der ein Beweis für das hätte sein können, was er erlebt hatte, war verflogen. Ratlos steckte er ihn wieder ein.

 

Yupag Chinasky

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